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Ausstellungsbesprechung «Marc Gröszer: Stock und Ast» Berliner Zeitung vom 23. März 2022

Printausgabe Berliner Zeitung vom 23. März 2022

 

Artikel aus Berliner Zeitung online: www.berliner-zeitung.de/kultur/marc-groeszers-parade-der-ungefaelligkeit-des-fratzenhaften-freakartigen-li.218152

„… Malerei aus Berlin:

Marc Gröszers Parade der Ungefälligkeit, des Fratzenhaften, Freakartigen

Sellerieköpfe und Orangenhaut tragen die Figuren auf Marc Gröszers neuen Bildern in der Galerie Franzkowiak im Friedrichstraßen-Quartier 207.
Ingeborg Ruthe, 22.3.2022 – 14:52 Uhr


Lars Wiedemann/Galerie Franzkowiak/Marc Gröszer

Das ist nicht die „Schlummernde Venus“, sondern eher eine Serail-Szene im „Hochofen“.

Bei dieser Ausstellung ließe sich aus dem Stand eine zweite dazu machen. Eine übers Publikum von Marc Gröszers „Stock & Ast“ bei Franzkowiak im Friedrichstraßen-Quartier 207. Sie bestünde aus fotografischen Momentaufnahmen, auf denen die konsternierten Mienen der Passanten festgehalten wären. Nach anfänglicher Ratlosigkeit angesichts dieses harten (Mal-)Tobaks und einiger Zeit des Vertiefens erwacht bei den meisten die Neugier für diese schwellenden, ineinander verlaufenden Ölfarben auf hölzernen Tafeln. Was bedeuten die farbstrudelnden deformierten, Joint rauchenden Köpfe mit herausquellenden Augen wie aus einem Zombi-Film? Sie sind einer Sellerieknolle ähnlicher als einem männlichen Exemplar der Spezies Homo sapiens. Kommen sie aus der antiken Vorhölle oder dem modernen Inferno? Kein bisschen gefälliger stellt der Maler auch seine nackten Riesinnen mit Orangenhaut an Oberschenkeln und Po dar. Geradezu obszön liegt die „Schlummernde Venus“ in einem ruinösen Gemäuer, das wohl mal als Ziegel-Brennerei diente.

Juli Diersch/Galerie Franzkowiak/Marc Gröszer

„Kopf“, 2021

Dann bleibt der Blick hängen an martialischen Sibyllen mit bunten ballonartigen Brüsten, mit Bauarbeiter-Bizeps und Greisinnen-Gesichtern. Sie könnten Orakel sein, eins aus Delphi am Fuße des Parnass, das andere aus Cumae nahe Neapel, ein weiteres aus Libyen und noch eins aus Eritrea. Sie erinnern an jene angsteinflößenden Wahrsagerinnen, wie sie einst Michelangelo ins Deckenfresko der Sixtina gemalt hat. Dem Mythos nach sind Sibyllen Prophetinnen, die im Gegensatz zu anderen göttlich inspirierten Sehern unaufgefordert und daher nicht beliebt, aber gefürchtet die Zukunft voraussagen. Keine rosige zumeist. Schon die antike Welt war durchzogen von Krisen, Machtkämpfen, Kriegen, Naturkatastrophen. Wie bei vielen anderen Orakeln ergeht die Vorhersage meistens doppeldeutig, teilweise wohl auch in Form eines Rätsels.

Lars Wiedemann/Galerie Franzkowiak/Marc Gröszer
Das Orakel: „Wer schreibt der bleibt“, 2022

Rätsel sind auch Marc Gröszers Bilder. Sie hängen an den Galeriewänden in der Hauptpassage des Friedrichstraßen-Quartiers, zwischen Läden und Cafés – als Parade der Ungefälligkeit, des Fratzenhaften, Freakartigen. Schon immer beschäftigen den Berliner Künstler, er ist der Sohn des früh gestorbenen Malers und Bildhauers Clemens Gröszer, die Bezüglichkeiten, Verkettungen, Verwerfungen und Wechselwirkungen zwischen Individuen, Gesellschaften, Geschlechtern, Religionen und Kunst. Diese oft zerstörerische Gemengelage setzt der an der Kunsthochschule Weißensee ausgebildete Gröszer Junior in den historischen Kontext. Man kann auch sagen, er greift mit furiosen Pinselstrichen tief hinein in die moderne Kunstgeschichte, aber ohne epigonal zu werden. Sichtlich hat der 49-Jährige sich geschult an Malern wie Rubens,  Ensor, Corinth, Dix, Grosz, Bacon, auch an den grimmassigen Köpfen der Amerikaner Basquiat oder Pettibon. Auch erinnern Gröszers oft schlammig und sumpfig wabernde, schwellende Landschaften an Rembrandts Zeitgenossen Hercules Seghers.

Alles wirkt auf uns Betrachtende zunächst bizarr und unglaublich dicht, dann entdeckt man eine überraschende Vielschichtigkeit in der zeichnerischen Meisterschaft des Figuren-Malers, seine sinnlich auf den Bildgrunde geschleuderte Lust am Leben und zugleich der sarkastischen Kritik an unserer kaputten Wohlstandsgesellschaft. Es ist alles andere als eine liebliche Reflexion über die Wirklichkeit.

Galerie Franzkowiak, Quartier 207, Friedrichstr. 76–78, Passage, bis 7. Mai, Do.–Sa. 14 bis 18 Uhr.

Ingeborg Ruthe
Redakteurin Kultur  …. „